Der Ablass ist kein alter Zopf
Gegen Ende des Kirchenjahres, insbesondere im ‚Allerseelenmonat‘ November, sind wir eingeladen, den Blick über den Tellerrand des Zeitlichen hinaus auf die ‚Letzten Dinge‘ zu richten. In diesen Zusammenhang gehört auch die katholische Glaubenslehre über den Ablass. Wenn man diesen Gegenstand heute erwähnt, kann man durchaus der Auffassung begegnen, Ablässe seien ‚alte Zöpfe von gestern‘ und zumindest heute ‚überholt‘. Man erinnert sich vielleicht aus dem Geschichtsunterricht gerade noch daran, dass einst mit Ablässen allerhand Unfug getrieben wurde und dass der mutmaßliche Groschen im Kasten eines Herrn Tetzel zu einem Mitauslöser der Reformation geworden ist.Anlässlich einer Priesterfortbildung sagte ein Pfarrer, das Thema ‚Ablass‘ sei in seiner gesamten theologischen Ausbildung nicht ein einziges Mal vorgekommen, und er persönlich habe bislang noch gar nie einen einzigen Ablass gewonnen. Gerade weil von mancher katholischen Kanzel dieser Gegenstand schon seit Jahrzehnten nicht mehr gehört wurde, scheint es sehr aktuell zu sein, sich damit auseinanderzusetzen.
Zunächst sei an den Grundsatz erinnert, dass ein Missbrauch nicht ein Argument gegen einen guten Gebrauch ist (Abusus non tollit usum). Dass Lehre und Praxis des Ablasses missverstanden oder verdreht wurden, lässt sich kaum leugnen, doch gilt es nicht den Ablass zu beseitigen, sondern den Missbrauch desselben. Und außerdem ist von großer Wichtigkeit, was Papst Franziskus in seiner Enzyklika ‚Lumen fidei‘ vom 29. Juni 2013 in Erinnerung ruft: „Da der Glaube einer ist, muss er in seiner ganzen Reinheit und Unversehrtheit bekannt werden. Gerade weil alle Glaubensartikel in Einheit verbunden sind, bedeutet, einen von ihnen zu leugnen, selbst von denen, die weniger wichtig zu sein scheinen, gleichsam dem Ganzen zu schaden.“ (ebd. Nr. 48)
Es ist also nicht nur nicht möglich, die Lehre vom Ablass aus der Gesamtheit des katholischen Glaubens auszuklammern. Vielmehr wird gerade hier ganz wunderbar deutlich, wie alle Glaubenswahrheiten zusammen ein organisches Ganzes bilden und aufeinander bezogen sind. Versuchen wir also, dies in aller Kürze aufzuzeigen!
Um die Lehre vom Ablass zu verstehen, ist eigentlich der ganze katholische Glaube vorausgesetzt. Man muss wissen, was ‚Sünde‘ und was ‚Reue‘ ist und worin der Unterschied zwischen ‚Sündenschuld‘ und ‚Sündenstrafe‘ besteht. Wie gut, dass es den Katechismus gibt!
Schon aus der alltäglichen Erfahrung wissen wir, dass Sünden Folgen haben, die nicht durch Reue allein aus der Welt geschafft werden können. Wer beispielsweise gestohlen hat, muss das nicht nur bereuen, sondern das Diebesgut zurückerstatten. Wer einen materiellen Schaden verursacht hat, muss sich bemühen, diesen zu beheben, und wenn jemand dem guten Ruf eines Menschen geschadet hat, wäre Reue allein entschieden zu wenig. Genugtuung und Wiedergutmachung fordert die Tugend der Gerechtigkeit!
Neben solch materiellen Folgen gibt es auch geistige Folgen von Sünden: Sie können die Seele verwunden und zu dauerhaften Störungen führen. Man denke beispielsweise an die psychischen Folgen einer Abtreibung oder an jede Form von Sucht, die aus der Gewöhnung an Schlechtes (z. B. den Missbrauch von Alkohol) entsteht. Eine wesentliche geistige Folge der Sünde ist, dass sie von Gott trennt und im Widerspruch zu der ihm geschuldeten Liebe steht. Auch die verletzte göttliche Gerechtigkeit fordert Wiedergutmachung.
Nun ist es wichtig zu wissen, dass ein Ablass nicht Sünden vergibt, sondern deren Vergebung bereits voraussetzt. Während die Vergebung sich auf die Sünde bezieht, bezieht der Ablass sich auf die Folgen der Sünde, denn: „Ablass ist der Nachlass zeitlicher Strafe vor Gott für Sünden, deren Schuld schon getilgt ist.“ (CIC can 992).
Bei echter Reue und insbesondere durch das Sakrament der Buße vergibt Gott die Sünden. Aber die ‚zeitlichen‘ Folgen der Sünde bleiben zunächst bestehen und fordern Genugtuung und Läuterung. Solche Läuterung geschieht durch Werke der Buße, weshalb es im Kirchenjahr den Advent und die Fastenzeit gibt. Eine zweite Möglichkeit der Läuterung ist das ‚Fegfeuer‘, ein jenseitiger Ort der Läuterung für alle, die zwar in der Gnade Gottes, aber mit ungebüßten lässlichen Sünden oder zeitlichen Sündenstrafen behaftet sterben. Im Fegfeuer werden sie von all dem befreit, was die hl. Katharina von Genua in ihrem Traktat über das Fegfeuer bildhaft den ‚Rost der Sünde‘ nennt und was sie noch von der vollen Gemeinschaft mit Gott trennt.
Neben diesen beiden gibt es eine dritte Möglichkeit, sich von den Folgen der Sünde zu reinigen, und das ist der Ablass.
Zum weiteren Verständnis des Ablasses sind folgende Glaubenswahrheiten vorausgesetzt, die einst zum kleinen Einmaleins jedes Katholiken gehörten: die Gemeinschaft der Heiligen, der Gnadenschatz der Kirche und die Schlüsselgewalt des Petrus.
Die ‚Gemeinschaft der Heiligen‘ (communio sanctorum) besagt, dass alle Glieder des geheimnisvollen Leibes Christi (d. h. der Kirche) durch ein geheimnisvolles Band real miteinander verbunden sind: „Der Christ, der sich mit der Gnade Gottes von seiner Sünde zu läutern und sich zu heiligen sucht, steht nicht allein. Das Leben jedes einzelnen Kindes Gottes ist in Christus und durch Christus mit dem Leben aller anderen christlichen Brüder in der übernatürlichen Einheit des mystischen Leibes Christi wie in einer mystischen Person in wunderbarem Band verbunden.“ (KKK 1474)
Innerhalb dieser Gemeinschaft besteht ein Güteraustausch (communicatio bonorum): „In der Gemeinschaft der Heiligen besteht unter den Gläubigen - seien sie bereits in der himmlischen Heimat oder sühnend im Reinigungsort oder noch auf der irdischen Wanderschaft - in der Tat ein dauerhaftes Band der Liebe und ein überreicher Austausch aller Güter. In diesem wunderbaren Austausch kommt die Heiligkeit des einen den anderen zugute, und zwar mehr, als die Sünde des einen dem anderen schaden kann. So ermöglicht die Inanspruchnahme der Gemeinschaft der Heiligen dem reuigen Sünder, dass er von den Sündenstrafen früher und wirksamer geläutert wird.“ (KKK 1475)
Beruhend auf der Glaubenswahrheit von der Gemeinschaft der Heiligen und der stellvertretenden Genugtuung Christi, glauben wir an den ‚Gnadenschatz der Kirche‘ (thesaurus Ecclesiae). Dieser besteht „in dem unendlichen und unerschöpflichen Wert, den bei Gott die Sühneleistungen und Verdienste Christi, unseres Herrn, haben ... Außerdem gehört zu diesem Schatz auch der wahrhaft unermessliche, unerschöpfliche und stets neue Wert, den vor Gott die Gebete und guten Werke der seligsten Jungfrau Maria und aller Heiligen besitzen.“ (KKK 1476 f.)
Einen Ablass zu ‚gewinnen‘ bedeutet also nichts anderes, als dass man als Glied der Kirche von der Gemeinschaft der Heiligen und dem Gnadenschatz der Kirche profitiert.
Dieser ganz real existierende Gnadenschatz wird verwaltet durch die Kirche, und zwar kraft der ihr vom Herrn verliehenen Binde- und Lösegewalt. An diese von Jesus Christus seiner Kirche verliehene Vollmacht erinnert der Schlüssel, den die künstlerische Darstellung dem hl. Petrus in die Hand gibt, eingedenk des Wortes Jesu: „Was immer Du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein.“ (Mt 16, 19)
Folglich ist es die Sache der Kirche, die Bedingungen zur Gewinnung eines Ablasses zu ordnen: „Der Ablass wird gewährt durch die Kirche, die kraft der ihr von Jesus Christus gewährten Binde- und Lösegewalt für den betreffenden Christen eintritt und ihm den Schatz der Verdienste Christi und der Heiligen zuwendet, damit er vom Vater der Barmherzigkeit den Erlass der für seine Sünden geschuldeten zeitlichen Strafen erlangt. Auf diese Weise will die Kirche diesem Christen nicht nur zu Hilfe kommen, sondern ihn auch zu Werken der Frömmigkeit, der Buße und der Nächstenliebe anregen.“ (KKK 1478)
Am 1. Januar 1967 veröffentlichte Papst Paul VI. die Apostolische Konstitution ‚Indulgentiarum doctrina‘, in welcher er den Gläubigen die Ablasslehre ins Gedächtnis rief und die Ablasspraxis neu ordnete. 1968 erschien in zwei Auflagen das offizielle Ablassverzeichnis ‚Enchiridion indulgentiarum‘. Eine überarbeitete dritte Auflage erschien nach der Promulgation des neuen kirchlichen Gesetzbuches am 18. Mai 1986. Schließlich erschien am 16. Juli 1999 eine systematisch überarbeitete vierte Auflage des ‚Enchiridion indulgentiarum‘. Allein letztere Ablassordnung ist heute gültig, denn sie setzt alle vorhergehenden außer Kraft.
Seit der Apostolischen Konstitution ‚Indulgentiarum doctrina‘ von 1967, deren Bestimmungen dann im kirchlichen Gesetzbuch übernommen wurden, gibt es nun zwei Arten von Ablässen, nämlich den ‚vollkommenen Ablass‘ und den ‚Teilablass‘: „Ein Ablass ist Teilablass oder vollkommener Ablass, je nachdem er von der zeitlichen Strafe, die für die Sünden zu verbüßen ist, teilweise oder ganz befreit.“ (CIC can 993)
Der Teilablass ist nicht mehr, wie in früheren Zeiten, mit einem konkreten Zeitmaß verbunden, und selbst wenn in manchen Gebetbüchern noch das zuvor übliche Maß nach Tagen oder Jahren [z. B. 100 Tage oder 7 Jahre] geschrieben steht, ist dies nicht mehr gültig. Der Ursprung dieser älteren Praxis liegt wahrscheinlich in gewissen Eigentümlichkeiten der von den iroschottischen Mönchen gepflegten und verbreiteten ‚Tarifbuße‘. Damals wurde für bestimmte öffentliche Vergehen ein genau bestimmtes Maß öffentlicher Buße auferlegt, welches sich bis hin zu mehreren Jahren erstrecken konnte. Wurde dann ein Ablass gewährt, so wurde dieser in einem ganz konkreten Zeitmaß formuliert und von der Bußzeit abgezogen. Heute heißt es vom Teilablass ganz allgemein, dass er den sühnenden Wert, den das jeweilige mit Ablass versehene gute Werk von sich aus hat, vermehrt.
Abschließend schauen wir noch auf die heute geltenden Bedingungen, die im Kirchenrecht für die Gewinnung eines Ablasses vorgeschrieben sind. Als allgemeine Bedingungen nennt das kirchliche Gesetzbuch (CIC) im Canon 996: Einen Ablass kann nur ein Katholik gewinnen, der getauft und nicht von der Gemeinschaft der Kirche getrennt ist. Um einen Ablass gewinnen zu können, muss man bei Verrichtung des vorgeschriebenen Werkes im Stand der Gnade sein. Außerdem muss man „zumindest die allgemeine Absicht haben“, den Ablass tatsächlich zu gewinnen, was bedeutet, dass man einen Ablass nicht zufällig gewinnt, sondern nur, wenn man den Gnadenschatz der Kirche tatsächlich in Anspruch nehmen will.
Ergänzt werden diese Bestimmungen durch das genannte Enchiridion von 1999 in den Nummern 18 bis 20: Einen vollkommenen Ablass kann man täglich nur einmal gewinnen, einen Teilablass aber häufiger. Wenn zur Erlangung eines vollkommenen Ablasses der Besuch einer Kirche oder öffentlichen Kapelle vorgeschrieben ist, muss dazu ein Vater unser und ein Glaubensbekenntnis gebetet werden.
Die wohl schwierigste Bedingung lautet im Original: „Zur Erlangung eines vollkommenen Ablasses muss man frei sein von jeder Anhänglichkeit an irgendeine, auch lässliche Sünde [praeter exclusionem affectus erga quodcumque peccatum etiam veniale].“ (Nr. 20, § 1)
Schließlich kommen zu dem zu verrichtenden Werk, auf welches die Kirche den Ablass gewährt, noch folgende drei Bedingungen hinzu: die sakramentale Beichte (einige Tage vor oder nach dem Ablasswerk, sofern man bei Verrichtung des Werkes im Gnadenstand ist), die eucharistische Kommunion (möglichst am selben Tag) und ein Gebet nach Meinung des Heiligen Vaters, wozu es heißt: „Das Gebet nach Meinung des Hl. Vaters kann beispielsweise ein Vater unser und ein Ave Maria sein.“ (Nr. 20, § 5).
Unter diesen Bedingungen kann man täglich einen vollkommenen Ablass gewinnen, wenn man beispielsweise wenigstens eine halbe Stunde lang das allerheiligste Altarsakrament anbetet, eine Kreuzwegandacht an den dafür vorgesehenen Kreuzwegstationen betet, den Rosenkranz in einer Kirche, in einer öffentlichen Kapelle, in der Familie oder in sonstiger ehrenhafter Gemeinschaft betet oder wenigstens eine halbe Stunde lang die Heilige Schrift liest.
Abschließend sei noch erwähnt, dass nach katholischer Lehre und Praxis Ablässe fürbittweise auch Verstorbenen zugewendet werden können (vgl. Enchiridion Nr. 3 und KKK 1479). Für den sog. ‚Allerseelenablass‘ gilt neben den genannten üblichen Bedingungen Folgendes: „Ein vollkommener Ablass, der nur den Seelen im Fegefeuer zugewandt werden kann, wird demjenigen Christgläubigen an jedem Tag vom 1. bis 8. November gewährt, der einen Friedhof andächtig besucht und, zumindest im Geiste, für die Verstorbenen betet.“ (Enchiridion, Nr. 29, § 1,1°)
Dies war nun nicht mehr als ein kurzer Abriss über die Lehre vom Ablass. Vielleicht ist es gelungen, zu zeigen, wie reich der katholische Glaube ist und wie solch eine scheinbar nebensächliche Wahrheit mit dem Ganzen in wunderbarer Weise verbunden ist.
Man bemerkt deutlich, dass die Kirche mit der Gewährung von Ablässen auch ein pädagogisches Ziel verbindet, denn sie will so ihre Gläubigen nicht zuletzt zu guten Werken motivieren. Eigentlich klingen die Bedingungen ganz einfach, und gerade deshalb sollte man sie tun. Wie groß wäre der Segen, wenn alle Katholiken dies verstehen und beherzigen und üben würden!